Peter Vier
Die Orgelstimmung Gottfried
Silbermanns nach
Georg Andreas
Sorge
G.
A. Sorge berichtet uns in seinem Büchlein "Gespräch
zwischen einem Musico theoretico und einem Studioso
musices von der,..Silbermannischen Temperatur" aus dem
Jahr 1748 von der Art, wie Gottfried Silbermann seine
Orgeln temperiert habe. Sorge kannte das "feine Werck zu
Graitz" und das "artige Werckgen zu Burgk" und hatte sie
"bespielet". Aus Hörproben und Beobachtungen hat er
Silbermanns Temperatur abgeleitet und berechnet.
Es gab seither
vielfache Versuche, diese Stimmweise zu interpretieren,
zu rekonstruieren und neuerdings auch wieder in Orgeln
zu übertragen . Alle diese Veröffentlichungen gehen auf
die Angaben Sorges als Quelle ihrer Information zurück.
Es ist nicht nötig, zu den zahlreich veröffentlichten
Theorien eine neue hinzuzufügen, vielmehr soll hier die
Quelle aller Beiträge, nämlich Sorges Angaben über die
Temperatur Gottfried Silbermanns,auf ihre
Stichhaltigkeit untersucht werden. Sind die von
G.A.Sorge vorgebrachten Daten eindeutig und
beweiskräftig, so daß danach Orgeln in
"Silbermann-Temperatur" gestimmt werden können?
Art und Weise dieser Untersuchung
Zu
Beginn wollen wir beachten: Sorge hat die Stimmung
Silbermanns an den zwei genannten Orgeln zunächst
gehörsmäßig festgehalten und beurteilt.
Selbstverständlich hatte er dazu kein Meßgerät, wie wir
es heute zur Verfügung haben. Ein geschultes Ohr hört
ohne Zweifel genauer als ein ungeschultes, aber auch dem
bestgeschulten Ohr sind von der Natur enge Grenzen
gesetzt, die nicht überschritten werden können. Wir
müssen also nachvollziehen, in wieweit allein durch den
Höreindruck eine solche Temperatur beobachtet und
festgehalten werden konnte. Der Ausgangspunkt ist also
die allgemeine Praxis des Hörens, ergänzt um einige
Besonderheiten bei der Stimmung von Orgeln mit
speziellen akustischen Phänomenen, die beim Abhören
einer Stimmung von Bedeutung sind.
Des
weiteren sollten wir den genauen Wortlaut des
Quellentextes von Sorge unter die Lupe nehmen und im
Detail erfassen. Wir wollen feststellen, wie Sorge vom
Höreindruck auf seine Berechnungen gekommen ist.
Abschließend wird ein Urteil möglich sein, wie sicher
und beweiskräftig Sorges Angaben zu interpretieren sind
und was für Folgerungen daraus für die Praxis zu ziehen
sind.
Alle
Manipulationen des Textes sollten beiseite gelassen
werden, ebenso wie alle über Sorges Höreindruck
hinausgehenden Folgerungen, wie man dieser Stimmung
'mittels der Mathematik auf die Beine verhelfen könne',
sollten zurückgestellt werden. Sorge selbst bemerkt auf
Seite 71/72 seiner Schrift: "Allein! zu was würde es
denn dienen? Was man weder sehen noch hören kan, das
thut in der Harmonie keinen Schaden... Was helfen mich
die Zahlen, wenn sie nicht mit ihrer Genauigkeit vors
Gehör zu bringen sind? Der Musicus und Geometra sind
also keine solche Knicker wie der Arithmeticus,.."
Die Praxis des Hörens
Die
folgenden Bemerkungen sollen dazu dienen, die Angaben
Sorges mit den gleichen Mitteln zu beurteilen, die die
Musiker und Theoretiker um die Mitte des 18.Jahrhunderts
zur Verfügung gehabt hatten. Welche Grenzen werden den
menschlichen Sinnen von der Natur gesetzt? 1. Zwei
Schallereignisse (Töne,Schwebungen) sind dann getrennt
zu hören, wenn sie einen zeitlichen Abstand von
mindestens l/lo Sekunde haben. Man kann also bis zu 10
hintereinander angeschlagene Töne pro Sekunde einzeln
erkennen, ebenso wie man bis zu 10 Schwebungen pro
Sekunde noch als solche hören kann. Schnellere Impulse
verwischen den Klangeindruck, ähnlich etwa wie 16
einzelne Bildeindrücke beim Film zum bewegten Bilde
werden. Beim Schwebungshören sind 5 Schw./sec noch gut
abzuzählen, bei 8 Schw,/sec. wird das Zählen schon
schwieriger, man beginnt mit dem Abschätzen, bei 10 und
mehr Schw./sec. hört man statt der Schwebungen eine
gewisse Rauhigkeit bis Schärfe des Klanges. Eine
Wolfsquinte oder die mitteltönigen Wolfsterzen sind also
gehörsmäßig nicht genau zu definieren, weil die
Schwebungsfrequenzen deutlich höher als 10 Schw./sec.
liegen. Man kann die einzelnen Töne eines Intervalls
hintereinander anschlagen, bekommt aber dadurch nur
einen groben Anhaltspunkt über die Abweichung von der
Reinheit. Alle Interferenzen über 10 Schw./sec. sind
nicht mehr gehörsmäßig exakt zu beurteilen. 2. Die
Intensität der hörbaren Schwebungen bei nicht ganz rein
gestimmten Intervallen nimmt in dieser Reihenfolge ab:
Prime, (zwei Pfeifen im Gleichklang), Oktave, Quinte,
Terz, Septime usw. Die Quintschwebungen sind in der
Regel um einiges deutlicher zu hören als die
Terzschwebungen. In einem Akkord kann eine geringe
Quintschwebung eine doppelt so hohe Terzschwebung fast
zudecken. Aus Erfahrung kann man sagen, daß eine Terz in
der Mittellage der Klaviatur, die etwa 4-5
Schwebungen/Sekunde aufweist, vom normalen Hörer noch
durchaus als rein empfunden werden kann. 3. Welche
Tonhöhenunterschiede sind von einem geübten Hörer noch
zu unterscheiden? In der Literatur2 wird erwähnt, daß
noch 2 Cent Abweichung von der Reinheit kaum gehörsmäßig
erfaßt werden kann. Das mag gelten, wenn man ein Cembalo
stimmen will. Die schnell verfliegenden Schwebungen an
besaiteten Instrumenten sind schwieriger zu hören im
Gegensatz zum stetigen Klang von Orgelpfeifen.
Geübte Orgelstimmer sind durchaus in der Lage,
Unterschiede von 1 Cent zu hören, wenn sich solche Töne
nicht "anziehen". 4. Bei der Beurteilung einer
Orgelstimmung muß man wissen, daß sich Klänge von
Pfeifen gleicher Frequenz oder auch die Frequenzen
harmonisch zueinander stehender Intervalle "anziehen",
d.h. sie klingen bei geringer Verstimmung schon rein,
obwohl die mit Meßgeräten feststellbaren Frequenzen noch
Schwebungen ergeben müßten. Dieses "anziehen" oder
"beiziehen" ist abhängig von der Mensur der Pfeifen
(enge Pfeifen ziehen sich weniger an, weite Pfeifen
ziehen sich dagegen stark an), von der Aufstellung
der Pfeifen innerhalb der Orgel, von der Größe und
Beschaffenheit der Gehäuseresonanz, der Akustik des
Raumes u.a. Die Orgelbauer früherer und auch heutiger
Zeit machen sich das zunutze, indem sie die Teilungen
der Windladen und Stellung der Pfeifen diatonisch oder
gar in Terzenstellung auslegen. So stehen bei der
Terzenstellung alle großen Terzen beieinander und ziehen
sich besser an, während die Quinten weiter auseinander
stehen, so daß das "anziehen" vermieden wird. 5. Wie
genau bleibt eine einmal gelegte Temperatur in der Orgel
stehen? Jeder Orgelbauer weiß, wie schnell sich die fein
ausgewogenen Schwebungen in der Temperaturoktave ändern
können. Ein Sonnenstrahl auf den Prospekt, ein Luftzug
aus dem Speicher, die Körperwärme des Stimmers während
der Arbeit, die nach der Arbeit geschlossene Rückwand
des Orgelgehäuses können mehr oder weniger Einfluß auf
eine exakt gelegte Temperatur nehmen. Die Zeit tut ein
übriges mit Staub, Ungeziefer, Undichtigkeiten an Stock
und Laden, die die Stimmhaltung beeinflussen können.
Diese feinen Unterschiede innerhalb der Temperaturoktave
hört in der Regel kein Spieler und kein Hörer, sie sind
aber dennoch groß genug, um nachträglich eine genaue
Beurteilung und Temperaturberechnung fast unmöglich zu
machen.
Der Wortlaut der
Temperaturangaben Sorges zur Silbermann-Stimmung
Seite 16: Der Studiosus erhält die
Anweisung, wie Quinten und Terzen zu prüfen sind:
|
An dieser Stelle
folgt im Quellentext die Tabelle, in der Sorge die
mathematisch berechneten Werte der Silbermann-Stimmung
eingesetzt hat. Die Tabelle lassen wir beiseite, denn
über die Tabellenwerte wurde schon genug geschrieben und
diskutiert. Wir wollen uns ganz darauf konzentrieren,
was Sorge gehörsmäßig erfaßt und beschrieben hat.
Syntonisches oder pythagoreisches Komma?
Schon mehrmals
wurde die Frage erörtert, ob Sorge in seinen
Berechnungen der Silbermann-Stimmung das pythagoreische
oder das syntonische Komma zugrunde lege. Barbour z.B.
nimmt den Mittelweg, indem er den Mittelwert beider
Kommatas wählt. Das rührt von der Inkonsequenz Sorges
her, der im Vergleich der Printzschen Stimmung (reine
Mitteltönigkeit) von den um 1/4 (syntonischem) Komma
verengten Quinten spricht, dagegen bei den um 1/6 Komma
verengten Quinten bei Silbermann das pythagoreische
Komma meint. Letzteres geht eindeutig aus seiner Tabelle
Seite 2o hervor. Auch an anderen Stellen, so auf Seite
14, spricht Sorge vom pythagoreischen Komma:
Diese Verwechslung des syntonischen (oder didymischen)
Kommas mit dem pythagoreischen (oder ditonischen) Komma
geschieht ohne jede Erläuterung. Wenn der Studiosus auf
dem Damm gewesen wäre, hätte er danach fragen müssen.
Ich möchte damit nicht behaupten, daß Sorge diese
Verwechslung übersehen hätte (er kannte sich in dieser
Materie zu gut aus, daß man ihm das unterstellen
könnte). Der Unterschied des syntonischen und des
pythagoreischen Kommas mit fast 2 c ist jedem
einigermaßen gewandten Stimmer geläufig und ohne
Hilfsmittel zu hören. Ich vermute, daß Sorge diese
Verwechslung bewußt vorgenommen hatte, um seine Tabellen
übersichtlich auch in Bezug auf den Quintenzirkel
darstellen zu können. Wollte man nämlich das syntonische
Komma in die Berechnung eines Quintenzirkels einfügen,
gibt es sehr komplexe Brüche, die die klaren
Bezugsgrößen wie beim pythagoreischen Komma vermissen
lassen. Vermutlich war das der Hauptgrund, syntonisches
und pythagoreisches Komma gleich zu setzen, zumal der
Unterschied von ca. 2 c, auf 11 Quinten verteilt, nicht
groß ist. Aber diese Verwechslung beleuchtet Sorges
Arbeitsweise, die mehr von Seiten der Mathematik
bestimmt ist als von der Praxis des Stimmens. Seit 3
Jahrhunderten legte man die Mitteltönige Stimmung durch
Temperierung von 4 Quinten um 1/4 syntonisches Komma
entweder zwischen C-G-D-A-E oder F-C-G-D-A, um dann
anschließend die 8 (mehr oder weniger) reinen Terzen zu
stimmen. Der Rest (nämlich die übrig bleibende
Wolfsquinte) ergab sich von selbst. Es kann in der
Praxis der mitteltönigen Stimmung niemals anders als vom
syntonischen Komma die Rede sein, da der volle
Quintenzirkel wegen der Wolfsquinte nicht aufgeht und
keine Möglichkeit der Probe im Quintenzirkel besteht.
Die 12 Halbtöne der Stimmoktave ergaben sich durch 4
temperierte Quinten und 8 gute Terzen. Diese Stimmweise
ist nur mit dem syntonischen Komma verknüpft.
Wenn nun Sorge bei
Silbermanns Stimmung eine Wolfsquint über gis
beschreibt, handelt es sich um eine mitteltönige
Stimmung mit mehr oder weniger "guten" Terzen, die in
der gleichen Reihenfolge zu stimmen waren wie seither.
Eine Stimmung anhand des pythagoreischen Kommas kann in
dieser Stimmfolge nicht vorkommen. Jede andere
Auffassung oder Berechnung stimmt nicht mit der Praxis
des Stimmens überein. Eine Stimmweise nach
Sorge-Silbermann kann in der Praxis nicht nach Gehör
gelegt werden, da für die Teilung des pythagoreischen
Kommas keine Probe durch die Wolfsquint und den damit
nicht aufgehenden Quintenzirkel möglich ist. Mit unseren
heutigen Stimmgeräten ist das freilich alles möglich.
Aber das können wir in früheren Zeiten nicht
voraussetzen. Die damalige Stimmpraxis der
Mitteltönigkeit ging stets von einer (mehr oder weniger)
reinen Terz C - E (oder F-A) aus mit dazwischen
temperierten Quinten. Die Teilung des pythagoreischen
Kommas kam erst bei Werckmeister auf, dessen
Quintenzirkel ja auch rundum aufging und gestimmt wurde.
Was setzt Sorge
voraus?
Wir
müssen uns nochmal mit dem zitierten Satz beschäftigen:
"Ich will voraus- setzen, daß 11. Quinten nicht zwar
1/4. wie Printz haben wolte, sondern ein Sechstheil
abwärts schwebeten, da es doch bei mancher kaum dabey
bleiben wird..."
An
der Stelle des vorausgegangenen Satzes würden wir
erwarten, daß Sorge wiefolgt schreiben würde: ' Mit
meinem geschulten Gehör habe ich folgende Intervalle und
folgende Schwebungen festgestellt....' . Stattdessen
lesen wir: "Ich will voraussetzen...." Wenn ich etwas
voraussetze und daran meine Berechnungen knüpfe, sind
die Ergebnisse alles andere als beweiskräftig, sie sind
ein Zirkelschluß, also nichtssagend.
Was
setzt Sorge hier voraus? Die in der mitteltönigen
Stimmung normalerweise um ein 1/4 des syntonischen
Kommas zu engen Quinten (wie sie z.B.Printz beschreibt)
seien bei Gottfried Silbermann nur um 1/6 des Kommas zu
eng gestimmt. Wenn diese Voraussetzung stimmt, dann
ergibt sich die genannte Tabelle, aus der die bekannten
Werte der Silbermann-Stimmung stammen.
Es
fällt weiter der Nebensatz auf: "...da es doch bey
mancher kaum dabey bleiben wird..." Diese einschränkende
Bemerkung zielt auf die Größe der genannten Quinten mit
1/6 Komma, als ob Sorge hier einflechten möchte,daß ihm
die Abweichung der Quinten nicht ganz so sicher
erscheine und daß die 11 Quinten schwerlich alle in
dieser exakten Stimmung stehen geblieben sein würden, so
daß sich also durchaus auch Abweichungen von dieser
Regel ergeben könnten. Diese Zweifel an der exakten
Angabe werden von Sorge nochmal ausgesprochen in dem
direkt folgenden Abschnitt auf Seite 21;
Von
einer gehörsmäßigen Beurteilung der Silbermann-Stimmung
ist also auch an dieser Stelle keine Rede. Vielmehr
schwächt Sorge selbst seine Tabelle ab, wenn er sagt:
"So gar genau kan man es eben nicht bestimmen", es
klingt, als wolle er sagen: 'So genau wird es auch nicht
darauf ankommen', denn: "Es ist genug, daß die Quinte gs
: ds unleidlich über sich schwebet, welches keineswegs
zu leugnen..." Hier berichtet Sorge wenigstens von einer
Hörerfahrung. Das ist vielleicht der Ausgangspunkt der
ganzen Berechnungen Sorges und Grund seiner Polemik
gegen Silbermann. Wie ich schon gezeigt habe, kann eine
Wolfsquinte durch Schwebungshören oder durch
hintereinander angeschlagene Töne in der Größe der
Unreinheit nicht exakt angegeben werden. Sorges Urteil
über die Wolfsquint g# - d# kann also nur eine mehr oder
weniger grobe Schätzung des Hörerlebnisses zugrunde
liegen.
Sorge führt fort: "Und diese (die Wolfsquint) bezeuget
gnugsam, daß die übrigen 11. wo nicht alle, jedoch die
meisten zuviel abwärts schweben. ,.". An dieser Stelle
spüren wir wieder eine gewisse Unsicherheit Sorges. Er
ist sich nicht sicher, daß alle 11 Quinten zuviel
abwärts schwebten. Wenn er annimmt, daß zumindest die
meisten zuviel abwärts schwebten, so braucht es dazu
keiner Gehörkontrolle, denn allein aus dem Zusammenhang
des Quintenzirkels ergibt sich, daß die meisten der
übrigen Quinten abwärts schweben, sonst geht der Zirkel
nicht auf. Alle anderen Bemerkungen Sorges an dieser und
anderen Stellen sind von der gleichen Qualität: Er weiß
aus seiner mathematischen und theoretischen Erfahrung
(die ich in keiner Weise schmälern möchte) und seinen
Berechnungen zu genau, daß es so und nicht anders sein
kann, wenn er bestimmte Angaben voraussetzt. Wir stoßen
also in der Beweisführung immer wieder auf
Zirkelschlüsse, Dies sollte uns vorsichtig machen in der
Annahme, daß in Sorges Tabelle zur Silbermann-Stimmung
alle Werte ohne Fehler und Tadel zu finden seien. Es
sind zu viele Voraussetzungen und Unbekannte in die
Berechnungen eingeflossen, als daß auf diesen Angaben
eine ganze Literaturgattung "Die Silber-mann-Stimmung"
aufgebaut werden könnte.
Die
Tabelle zeigt zwar eine interessante Art, die Werte der
Stimmung der Quinten, großen und kleinen Terzen in
Bruchteilen verschiedener Kommata und Diesen anzugeben.
Aus dem Quellentext ist aber keineswegs zu entnehmen,
daß Sorge diese Intervallwerte gehört und analysiert
hat. Es ist eher anzunehmen,
daß die Werte der
Tabelle idealisiert und mathematisch zurecht gerückt
worden sind.
Gottfried
Silbermanns Standpunkt
Auf Seite 23 seiner
Schrift läßt Sorge den Studiosus folgendes vortragen:
"Herr Silbermann aber würde ohne Zweifel gewaltig
darwider protestieren, wenn man seine Wercker anders
temperieren wolte; denn ich habe mir von ihm sagen
lassen, daß er in der Meynung stehe: Er habe die Sache
so vollkommen innen, daß nothwendig so, und durchaus
nicht anders müsse gestimmet werden, wie er
pfleget....". Das kann durchaus die authentische Meinung
Silbermanns sein, die hier von seinem Kontrahenten
überliefert wird. Der allseits hochgeachtete und
geschätzte Orgelbauer und Künstler wird Grund gehabt
haben, in dieser Frage Zeit seines Lebens nicht
nachzugeben.
Welche
Vorteile bringt die Sorge-Silbermann-Stimmung?
Wenn
Sorges Angaben und Berechnungen zur sogenannten
Silbermann-Stimmung der von Gottfried Silbermann
tatsächlich verwendeten Temperatur entsprochen haben
sollten, dann dürften wir heute noch die Vorteile dieser
Stimmungsart erproben und erfahren können. Gegenüber der
rein mitteltönigen Temperatur sind bei Sorge-Silbermann
die Quinten um ca. 1,5 c verbessert, dagegen sind die 8
guten Terzen um ca. 6c aufwärts schwebend gestimmt. Mit
der Verbesserung der Quinten werden die Terzen um das
vierfache verschlechtert'. Die Wolfsquinte klingt zwar
nur noch halb so schlimm, ist aber mit ca. 19,5 c
aufwärts schwebend noch immer vollkommen unbrauchbar.
Die Wolfsterzen über C#, G#, D# und H wurden von 42 c
auf ca. 29 c entspannt, sind aber mit diesen Werten noch
nicht als Terzen brauchbar geworden. Kein einziger
Akkord ist gegenüber der bisher üblichen mitteltönigen
Stimmung durch die sogenannte Silbermannstimmung
zusätzlich brauchbar geworden, dagegen haben die
ursprünglich reinen Terzen eine deutliche Trübung
erfahren.
Wir
müssen also erkennen, daß diese Stimmung nicht nur
keinen Vorteil, sondern sogar eine Verschlechterung der
bisher üblichen Stimmung bringt.
Kann
das im Ernst die Quintessenz der Lebensweisheit eines so
spekulativen und excellenten Handwerkers sein, der es an
nichts hat fehlen lassen bei seinen Instrumenten und dem
das beste gerade gut genug war?
Diese Überlegungen sind also auch nicht dazu angetan,
Sorges Angaben und Berechnungen zu unterstützen.
Eine wahre aber unangenehme Erkenntnis
Helmut K.H.Lange kommt das Verdienst zu, die
Silbermann-Stimmung nach Sorge von der
mathematisch-theoretischen Seite aus restlos aufgeklärt
zu haben.3
Lange schließt seine Betrachtungen mit den Worten: "Ein
Zweifel an der historischen Glaubwürdigkeit Sorges
erscheint mathematisch-akustisch ausgeschlossen. Zweifel
könnten höchstens entstehen über die Möglichkeiten, eine
solche Teilung praxisnah auf das Monochord oder die
Stimmpfeife zu bekommen, denn gehörsmäßig ist sie erst
dann erfaßbar, wenn sie theoretisch konzipiert ist, weil
reine 4 Intervalle als Gehörskontrollen nicht vorhanden
sind".
Langes Aussage stimmt überein mit dem Ergebnis der hier
vorliegenden Untersuchung. Denn Lange beschreibt mit
diesen Worten genau den Zirkelschluß, den Sorge beim
Abhören und Konzipieren der Silbermann-Stimmung macht
und den Lange in seinem Vortrag nachvollzieht. Die
Argumente von Sorge und Lange beweisen nicht die
Authentizität der Gottfried-Silbermann-Stimmung, weil
beide davon ausgehen, eine ungenau hörbare
Stimmung zuerst theoretisch und mathematisch festzulegen
und dann diese Stimmung als die abgehörte auszugeben. So
wurden Generationen von Musikern und
Instrumentenbauern durch inhaltsleere Berechnungen eines
Zirkelschlusses getäuscht.
Es
bleibt zum Schluß die Erkenntnis, daß Sorges Angaben auf
unzureichenden Hörergebnissen begründet sind. Alle
daraus gefolgerten Berechnungen sind nicht beweisfähig,
diese Temperatur als Gottfried Silbermanns Orgelstimmung
anerkennen zu können.
Anmerkungen:
1.
Von den wichtigsten Aufsätzen über dieses Thema nenne
ich nur pauschal die Verfasser:
Mattheson, Türk, Ritter, Riemann, Spitta, Flade,
Barbour, Dupont, Kelletat, Rimbault, Dähnert,
Billeter, Lange, Lottermoser, Eger u.a.
2.
B.Billeter: Die Stimmanweisung von Ignaz Bruder (1829),
in: Acta Organologica Band 12, S.237.
3.
Helmut K.H.Lange, "Die Orgelstimmung Gottfried
Silbermanns", Ein Beitrag zur Aufführungspraxis alter
Musik. Vortrag vor dem internationalen
Musikwissenschaftlichen Kongreß in Bonn am 9.9.197o,
veröffentlicht in: Acta Organologica, Band 7, S. 154 ff.
4.
Helmut K.H.Lange, a.a.O. S. 168.
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